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SCHWERPUNKT SEGREGATION

Geschlechtersegregation in Bildung und Beruf

Obwohl es im Zuge der Bildungsexpansion zu einer Angleichung der Bildungsniveaus von Frauen und Männern gekommen ist, hat sich die Geschlechtersegregation nach Bildungsfachbereichen kaum verringert. Burschen entscheiden sich mehrheitlich für technisch-handwerkliche oder naturwissenschaftliche Bildungswege, während Mädchen verstärkt Ausbildungen im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich absolvieren. Diese geschlechtstypische Schulwahl bildet die Basis für die Berufswahl und spiegelt sich in der Segregation des Arbeitsmarktes, d.h. der Spaltung in typische „Frauenberufe“ und typische „Männerberufe“ wider. Österreich wird im internationalen Vergleich weiterhin als ein Land mit starker Prägung durch traditionelle Geschlechterrollen und Arbeitsteilungsmuster beschrieben. Der große Stellenwert der Berufsbildung und ihre enge Verknüpfung mit dem Arbeitsmarkt  sowie das hohe Matching von Berufsbildungsabschlüssen und ausgeübten Berufen bilden den Ausgangspunkt, um Geschlechtersegregation in Bildung und Arbeitsmarkt nicht nur getrennt voneinander zu betrachten, sondern auch die Interaktion zwischen Bildungs- und Berufssegregation zu analysieren.

FRAGESTELLUNGEN

DATEN UND METHODIK

Wir konzentrieren uns in der Analyse auf den männerdominierten Bereich der MINT-Berufe (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik) und den frauendominierten Bereich der Bildungs-, Gesundheits- und Sozialberufe (BGS).

In den folgenden Analysen wird die Konzentration von Frauen und Männern auf MINT-, BGS- und sonstige Bereiche sowie die Segregation, die über die Frauenanteile in MINT-, BGS- und sonstigen Bereichen operationalisiert wird, betrachtet. Als Datenbasis werden die Querschnittsdaten der österreichischen Mikrozensus-Arbeitskräfteerhebung verwendet. Die Analyse bezieht sich auf Frauen und Männer im Haupterwerbsalter, d. h. im Alter zwischen 25 und 64 Jahren, um die erwerbsfähige Bevölkerung zu erfassen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit eine abgeschlossene Ausbildung hat. Für eine größere Stichprobe werden zwei Jahre zusammengefasst und die Entwicklung über die Jahre 2005/06, 2011/12, 2016/17 und 2019/20 beobachtet.

Ergänzend wird die Segregation von Schüler:innen im MINT-Bereich innerhalb des Bildungssystems bzw. im Bildungsverlauf analysiert. Die empirische Grundlage dafür sind Längsschnittdaten der Bildungsstatistik von Statistik Austria. Als Ausgangsgruppe wird die Kohorte der insgesamt 80.493 Schüler:innen (darunter 39.529 Mädchen und 40.964 Burschen) herangezogen, die im Schuljahr 2012/13 erstmals in eine Schule der Sekundarstufe 2 eingetreten sind. Der MINT-Fokusbereich umfasst alle Schulen, deren Schulformenkennzahlen den Ausbildungsfeldern „Informatik und Kommunikationstechnologie“ sowie „Ingenieurwesen, verarbeitendes Gewerbe und Baugewerbe“ (ohne „Architektur und Bauwesen“) zuzuordnen sind.

ERGEBNISSE

Trotz der starken Veränderung des Bildungsverhaltens in den letzten zwei Jahrzehnten, die vor allem bei Frauen zu einem Aufholprozess bei den höheren Bildungsabschlüssen geführt hat, hat sich die geschlechtstypische Bildungswahl kaum verändert. Drei grundsätzliche Tendenzen lassen sich in der empirischen Analyse hinsichtlich der Bildungs- und Berufssegregation sowie der Interaktion von Berufsbildungssystem und beruflicher Segregation identifizieren:

  • Erstens zeigt sich eine hohe Persistenz geschlechtstypischer Bildungs- und Berufswahl vor allem bei Männern: Die starke Konzentration der Burschen auf den MINT-Bereich hat in den vergangenen 15 Jahren (zwischen 2005 und 2020) eher noch zugenommen, während sich ihr Anteil in Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich kaum verändert hat.
  • Zweitens zeigt sich eine starke Wirkung der Bildungssegregation auf die Berufssegregation, wenngleich in unterschiedlichem Ausmaß in MINT- und BGS-Berufen.
  • Drittens weisen der gestiegene Anteil von Frauen in MINT-Berufen und die steigenden Matching-Quoten in MINT auf ein gewisses Potenzial geschlechtsspezifischer Ausbildungen und Berufe zum Abbau der Segregation hin, zeigen gleichzeitig aber auch deren Grenzen auf.

SEGREGATION DER BILDUNGSABSCHLÜSSE



Die Bildungsabschlüsse sind durch eine starke Konzentration der Männer auf technisch-naturwissenschaftliche Fächer geprägt: Mehr als die Hälfte der Männer (51%) hat in Österreich als höchsten Bildungsabschluss eine MINT-Ausbildung absolviert, während nur 9% der Frauen einen Abschluss in MINT-Fächern erworben haben. Der Bereich der BGS-Ausbildungen ist zwar kleiner, aber ebenfalls stark segregiert: 17% der Frauen und 5% der Männer haben eine Ausbildung im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich abgeschlossen.


Die geschlechtsspezifische Konzentration spiegelt sich im Frauenanteil der Bildungsbereiche wider: Bei den BGS-Bildungsabschlüssen machen Frauen 78% der Absolvent:innen aus, während im MINT-Bereich der Frauenanteil nur bei 15% liegt. Die Abbildung weist eine hohe Stabilität mit kleineren Schwankungen in BGS-Fächern zwischen 2005/06 bis 2019/20 auf, dagegen einen zwar langsamen, aber doch kontinuierlichen Anstieg des Frauenanteils in den MINT-Fächern (von 12% auf 15%). Der Männeranteil bei den BGS-Abschlüssen hat in diesem Zeitraum tendenziell noch abgenommen (von 23% auf 22%).

SEGREGATION DER SCHÜLER:INNEN IM MINT-BEREICH IM BILDUNGSVERLAUF

 

Die Tatsache, dass deutlich weniger Frauen als Männer über einen MINT-Bildungsabschluss verfügen, steht am Ende einer Kette von Entscheidungen, die im Zuge der Bildungslaufbahn und insbesondere an den Übergängen des Bildungssystems getroffen werden. Betrachtet wird hier die Kohorte der Schüler:innen, die im Schuljahr 2012/13 erstmals in eine Schule der Sekundarstufe 2 eingetreten sind. Im AHS-Bereich können für diese Kohorte bereits am Ende der Sekundarstufe 1 deutliche geschlechtsspezifische Unterschiede beobachtet werden: Obwohl Mädchen insgesamt häufiger eine AHS besuchen als Burschen, befinden sich im Schuljahr 2011/12 19% der Burschen, aber nur 14% der Mädchen in einem Realgymnasium.

Nach der Sekundarstufe 1 setzen Mädchen ihre Bildungslaufbahnen deutlich seltener an einer MINT-Fokus-Schule fort als Burschen. Besonders deutlich kommt das für die Gruppe der Mittelschüler:innen zum Ausdruck, von denen im zweiten Schuljahr der Sekundarstufe 2 fast ein Viertel der Burschen (24%), jedoch nur ein verschwindend geringer Anteil der Mädchen (2%) eine Lehre im MINT-Fokusbereich aufnimmt und gleichzeitig deutlich mehr Burschen als Mädchen eine BMHS mit MINT-Fokus besuchen. Bei den Schüler:innen der AHS-Unterstufen setzt sich die Konzentration der Burschen auf die Realgymnasien und der Mädchen auf andere Gymnasien in die Oberstufe hinein fort und wechseln gleichzeitig größere Anteile von Burschen als Mädchen in eine MINT-Fokusschule.

Verfolgt man jene, die am Ende der Sekundarstufe 1 eine Mittelschule besuchen und sich zwei Jahre später an einer Berufsschule befinden, weiter bis zu ihrem ersten Abschluss auf Sek2-Niveau, dann zeigt sich, dass Mädchen auch nach dem Antritt einer Lehre stärker wieder aus dem MINT-Fokusbereich verlorengehen als Burschen. Im Vergleich nach Geschlecht einerseits und zwischen dem Berufsschulbesuch mit und ohne MINT-Fokus andererseits wird deutlich, dass Mädchen die Ausbildung im MINT-Fokusbereich seltener abschließen als Burschen, wohingegen es sich bei den Lehrberufen, die nicht dem MINT-Fokusbereich zugerechnet werden, genau andersherum verhält.

Im Bereich der maturaführenden Schulen schließen Mädchen an den BHS mit MINT-Fokus und Realgymnasien etwas seltener ab als an den BHS ohne MINT-Fokus und anderen Gymnasien, wohingegen Burschen an den MINT-Fokusschulen und Realgymnasien mit etwas höheren Anteilen abschließen als an anderen Schulen.

SEGREGATION IM BERUF

Wenn es um die Konzentration auf die geschlechtstypischen Bereiche geht, ist sie im Berufssystem weniger stark ausgeprägt als bei den Bildungsabschlüssen: Im Durchschnitt sind 2019/20 38% der Männer in MINT-Berufen beschäftigt, allerdings verfügen 51% über einen MINT-Abschluss (Abbildung 7). Der Anteil der Frauen (6%) in MINT-Berufen ist dagegen nur halb so hoch wie ihr Anteil an den Bildungsabschlüssen (12%). In den BGS-Berufen ist der Anteil der Männer etwas höher als bei den Bildungsabschlüssen (7% vs. 5%). Auf der anderen Seite ist der Anteil der Frauen in BGS-Berufen deutlich höher als bei den Qualifikationen (24% sind in BGS-Berufen tätig und 17% weisen einen BGS-Abschluss auf).

Im Berufssystem sind die Muster und die Beharrlichkeit der geschlechtsspezifischen Segregation noch deutlicher sichtbar als im Bildungssystem: Der Frauenanteil steigt in den MINT-Berufen zwischen 2005/06 und 2019/20 langsam von 10% auf 12%, ist aber geringer als der Frauenanteil in den MINT-Bildungsabschlüssen. In BGS-Berufen zeigen sich wiederum Schwankungen im Zeitverlauf mit einem geringen Anstieg des Frauenanteils von 74% auf 75%.

MATCHING

57% der Männer üben mit einem MINT-Abschluss einen MINT-Beruf aus, während dies nur für 28% der Frauen mit einem MINT-Abschluss zutrifft. Damit ist das Matching von Frauen in MINT deutlich geringer: Fast drei Viertel der Frauen mit MINT-Qualifikation arbeiten in einem Nicht-MINT-Bereich. Im Vergleich dazu ist die fachspezifische Übereinstimmung von Qualifikation und ausgeübtem Beruf im BGS-Bereich sowohl bei Männern als auch bei Frauen höher: Mehr als 70% derjenigen, die über Qualifikationen in diesem Bereich verfügen, sind auch dort beschäftigt.

Das Matching von Frauen mit MINT-Qualifikationen ist zwischen 2005/06 und 2019/20 um mehr als 10 Prozentpunkte gestiegen (von 16% auf 28%). Das bedeutet, dass ein zunehmender Anteil von Frauen mit MINT-Abschluss diese Fähigkeiten und ihre Ausbildung in einem entsprechenden Beruf einsetzt. Bei den Männern hat dieser Anteil ebenfalls zugenommen, wenn auch in geringerem Maße (von 49% auf 57%).

DISKUSSION

Mit den gesellschaftlichen Grundwerten des SOPRO-Diskurses kann die Entwicklung der Segregation, die eine hohe Beharrlichkeit im frauendominierten Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich und nur eine leichte Minderung im MINT-Bereich zeigt, bewertet werden. Sozialer Fortschritt wird dafür an den Werten Wohlbefinden, Freiheit, Anerkennung, Sicherheit, Nicht-Entfremdung und Solidarität bemessen und Verteilungsgerechtigkeit im Sinne von Geschlechtergerechtigkeit als ein übergeordnetes Prinzip definiert, das all diese Werte einschließt (Richardson et al. 2019, Pessl et al. 2019).

Freiheit: Unter der Annahme, dass sich Interessen, Fähigkeiten und Kompetenzen von Frauen und Männern unterscheiden, kann Geschlechtersegregation als Ausdruck von Wahlfreiheit für Bildung und Berufe gesehen werden. Die Konzentration von Frauen und Männern auf bestimmte Berufe prägt aber auch gesellschaftliche Vorstellungen von Geschlechterrollen und damit verbundene Erwartungen, welche die individuelle Freiheit der Berufswahl beschränken. Ist Freiheit nur durch ökonomische Argumente begrenzbar (bessere Berufschancen im MINT-Bereich), aber nicht durch die solidarischen Argumente wie der Notwendigkeit von mehr Männern in Kindergärten und Volksschulen?

Anerkennung: Die negativen Auswirkungen der Geschlechtersegregation auf den frauendominierten Bereich betreffen sowohl das Berufsimage wie auch das Einkommen und die Arbeitsbedingungen, d.h. sowohl materielle wie auch soziale Anerkennung. Eine stärkere Beteiligung von Männern in Bildungs-, Gesundheits- und Sozialberufen wäre wünschenswert, jedoch besteht das Risiko, dass Männer Frauen aus den höheren und gut bezahlten Positionen in BGS verdrängen. Dementsprechend wird eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen und der Einkommen losgelöst vom Abbau der Segregation für diese frauentypischen Berufe gefordert. Kann individuelle Anerkennung beispielsweise in der persönlichen Interaktion der Pflege soziale und materielle Anerkennung kompensieren?

Nicht-Entfremdung: Eine interessensgeleitete Berufswahl trägt gewöhnlich dazu bei, sich im Arbeitsumfeld wohlzufühlen und zufriedenstellende Beziehungen zu Kolleg:innen und Tätigkeit zu verwirklichen. Dementsprechend kann Geschlechtersegregation Entfremdung verringern. Die hohen Austrittsraten von Frauen in MINT-Bildungswegen wie auch das geringen Berufsmatching-Quoten von Frauen mit MINT-Ausbildungen deuten darauf hin, dass sich nicht zufriedenstellende Arbeitsbedingungen und -beziehungen verstärkend auf Geschlechtersegregation auswirken. Wie mit dem sogenannten „Drehtüreffekt“ (vgl. Busch 2013, Jakobs 1989) gezeigt wird, trägt das Gefühl von Ausgeschlossenheit oder Machtlosigkeit von Frauen in männertypischen Bereichen dazu bei, diesen Berufsbereich wieder zu verlassen und verschärft die Segregation. Braucht es im MINT-Bereich lediglich mehr familienfreundliche Arbeitsplätze, um den Bereich für Frauen attraktiver zu machen, oder auch kulturelle Änderungen, um Entfremdung zu vermeiden?

Sicherheit: Die geringere materielle Absicherung der frauentypischen Bereiche wirkt sich negativ auf Sicherheit aus, da erst mit materieller Absicherung Freiräume für längerfristige Pläne und Interessenverwirklichung entstehen. Sicherheit wird dabei fundamentaler gedacht als nur bezüglich Ressourcennutzung und bezieht sich auch auf die Gestaltung von Arbeitsplätzen oder Arbeitszeiten. Bringt die Digitalisierung durch das höhere Risiko der Automatisierung im MINT-Bereich mehr Sicherheit für Arbeitsplätze im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich?  

Solidarität: Die soziale Kooperation zur Erreichung geteilter Ziele bezieht sich anders als die anderen Werte nicht auf die individuelle Ebene, sondern die Gesellschaftsebene. Geschlechtersegregation konzentriert das Arbeitskräftepotential gerade in den stark nachgefragten MINT- und BGS-Bereich auf ein Geschlecht. Die Förderung von Männern für Bildungs-, Gesundheits- und Pflegeberufe könnte ähnlich wie im MINT-Bereich zur Verringerung des Fachkräftemangels beitragen und damit eine solidarische Arbeitsteilung fördern, die beispielsweise die fordernde, oftmals gering- oder unbezahlte Arbeit in der Pflege nicht primär Frauen überlässt. Ist Solidarität in einer individualisierten Gesellschaft ein relevanter Wert?   

Wohlbefinden: Ein gutes Leben, Lebensqualität oder Verwirklichungschancen zielen auf subjektive Empfindungen, die eng mit anderen Werten, der Verwirklichung von Freiheit, Anerkennung, Sicherheit oder auch Nicht-Entfremdung verknüpft ist, die nur begrenzt objektiviert werden können. Die Annäherung von Wohlbefinden über das Bruttosozialprodukt als Wohlstandsmaß spricht grundsätzlich nicht gegen Segregation. Denn Arbeitsteilung und Spezialisierung fördern im Allgemeinen gesellschaftlichen Wohlstand und damit indirekt auch individuelle Lebensqualität. Das subjektive Wohlbefinden ist aber von der Gewichtung unterschiedlicher Werte abhängig, die über materielle Absicherung hinausgehen und wird auch von gesellschaftlichen Entwicklungen beeinflusst. Ist „Freiheit in der Berufswahl“ in einer individualisierten Gesellschaft vorrangig gegenüber den negativen Wirkungen der Segregation bei anderen Werten?