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Covid-19, Distance-Schooling und soziale Ungleichheit

AutorInnen: Mario Steiner, Maria Köpping, Andrea Leitner, Gabriele Pessl

In Österreich betrafen die Schulschließungen während des Lockdown im Frühjahr 2020 rund 1,1 Millionen SchülerInnen. Die Schulen waren zwar weiterhin für SchülerInnen geöffnet, in denen die Familien keine adäquate Betreuung leisten konnten. Dies war jedoch als absolute Ausnahme konzipiert und blieb es auch. Der Lockdown brachte somit eine Totalumstellung des Bildungswesens auf Fernunterricht und Lernen auf Distanz mit sich, großteils unterstützt durch die Kommunikation über digitale Medien.

Um in dieser Situation erfolgreich lernen zu können, muss eine Reihe an Voraussetzungen erfüllt werden. Passende materielle Rahmenbedingungen, wie ein geeigneter Platz zum Lernen oder Zugang zu digitalen Endgeräten, und digitale Kompetenzen erweisen sich dabei als notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzungen. Eine entscheidende Voraussetzung ist die Unterstützung, auf die SchülerInnen in ihren Familien zurückgreifen können – oder eben nicht. In der Ausnahmesituation geschlossener Schulen tritt damit der lange erforschte und gut bekannte Zusammenhang zwischen Lernleistungen und sozialer Ungleichheit (z.B. PISA-Untersuchungen seit 2000) besonders deutlich hervor: Erfolgreiches Lernen hängt davon ab, dass SchülerInnen und ihre Familien auf ökonomisches und kulturelles Kapital (Pierre Bourdieu) zurückgreifen können.

Benachteiligung im Fokus

In einer vom WWTF geförderten Studie zu Covid19 und Bildung beschäftigen wir uns damit, wie sich ungleiche Voraussetzungen für das Lernen zuhause in der Phase der Schulschließungen konkret äußern und wie PädagogInnen damit umgehen. Ziel ist es, herauszufinden, wie es – selbst mit geringen Vorerfahrungen und unter widrigen Rahmenbedingungen – gelingen kann, benachteiligte SchülerInnen zu unterstützen und ein Wachsen der Ungleichheit zwischen SchülerInnen zu vermeiden. Dabei machen wir Benachteiligung an vier verschiedenen Dimensionen fest, und zwar erstens der Unterstützung und Förderung durch die Eltern, zweitens den materiellen Verhältnissen, drittens der technischen Ausstattung zuhause sowie viertens den privaten Wohnverhältnissen der SchülerInnen.

Eine empirische Säule dieser Studie bildet eine Onlinebefragung im Mai 2020 unter LehrerInnen, schwerpunktmäßig auf der Sekundarstufe I (AHS-Unterstufe und Mittelschule) mit einem qualifizierten Response von über 4.000 PädagogInnen. Insgesamt konnten so beispielsweise 7% aller MS-LehrerInnen österreichweit in die Erhebung einbezogen werden, was eine breite empirische Basis darstellt. Daran anknüpfend wurden in den Sommerferien 14 persönliche Interviews mit Lehrkräften der Mittelschule und der AHS-Unterstufe in Wien geführt, um ein besseres Verständnis für die im Distance Learning beim Unterrichten auf Distanz verfolgten pädagogisch-didaktischen Zielsetzungen zu entwickeln und Strategien zur Erreichung und Motivation benachteiligter SchülerInnen zu reflektieren.

Erreichbarkeit als erste vieler Hürden

Die mit der Onlinebefragung erzielten Ergebnisse hinsichtlich der Situation von SchülerInnen beim Lernen zuhause zeigen eine Vielzahl von Herausforderungen auf. Die Herausforderungen beginnen bei der Erreichbarkeit der SchülerInnen. Nach Angaben der LehrerInnen sind im Durchschnitt 12% der SchülerInnen für sie nur schwer oder gar nicht erreichbar. Fragt man nach den benachteiligten SchülerInnen so steigt dieser Anteil auf das Dreifache: 37%. Wie man in der Grafik erkennen kann, sind jüngere SchülerInnen und jene in Wien tendenziell stärker von dieser Problematik betroffen.

Alles eine Frage der Motivation?

Die Erreichbarkeit stellt jedoch nur die erste von mehreren Hürden in diesem Zusammenhang dar. Ein unruhiger Arbeitsplatz, fehlende Unterstützung aus dem familiären Umfeld sowie technische Unzulänglichkeiten sind in weiterer Folge als Problemlagen der SchülerInnen zu nennen, die von rund 40% der LehrerInnen gesehen werden. Eine nochmals deutlich stärker verbreitete Hürde erkennen die LehrerInnen auf Ebene der Motivation, der Ablenkungen und der Aufrechterhaltung einer Tagesstruktur für die SchülerInnen. Hier liegt der Anteil der zustimmenden PädagogInnen bei rund 70%-90%. Wiederum zeigt sich in der Grafik eine teilweise deutlich stärker ausgeprägte Problemlage in Wien.

Sorgen über die persönlich belastenden Situationen und die Schwierigkeiten der SchülerInnen, als Schule sozusagen zuhause stattgefunden hat, spiegeln sich auch in den qualitativen Interviews mit Lehrpersonen aus MS und AHS-Unterstufe in Wien wider. Mangelnde technische Ausstattung und Kompetenzen für den digital unterstützten Unterricht werden nicht nur seitens der SchülerInnen wahrgenommen, sondern stellen auch für die Lehrkräfte selbst eine Herausforderung dar. Während hinsichtlich dieser technischen Probleme im Zeitverlauf deutliche Lerneffekte und Verbesserungen bekundet werden, haben die Schwierigkeiten der Motivation und Zeitstruktur mit zunehmender Dauer des Distanzunterrichts tendenziell noch zugenommen.

Nach einer ersten Phase der Unsicherheiten und Etablierung von Strukturen mit vielerorts minimalen Voraussetzungen für die Umsetzung des digitalen Unterrichts ist erfolgreiches Lehren und Lernen auf Distanz also nicht mehr eine Frage prinzipieller Erreichbarkeit – die Herausforderung besteht vielmehr darin, Selbstorganisation und Motivation zu fördern und den persönlichen Kontakt aufrechtzuhalten. Lehrpersonen nehmen dabei neue Rollen ein, die neben der fachlichen auch die persönliche Unterstützung umfassen. In einer für alle Beteiligten äußerst fordernden Ausnahmesituation versuchen die Lehrkräfte, nicht nur den Part der Schule (Wegfall von Stundenplan, Noten, usw.), sondern teilweise auch die fehlende Unterstützung durch Eltern auszugleichen. Denn noch stärker als im Normalunterricht wird die mangelnde Unterstützung durch Eltern als Nachteil für den Bildungserfolg wahrgenommen. Dies betrifft in Wien, wo die Segmentierung der Sekundarstufe I besonders groß ist, die MS stärker als die AHS. Während der Schulschließungen wurden vielfältige Strategien verfolgt, um den in der zweiten Grafik dargestellten Herausforderungen zu begegnen. Dazu zählt beispielsweise die Vorgabe zeitlicher Strukturen durch kurzfristige Aufgaben oder intensiven Kontakt, um selbständige Umsetzung und Zeiteinteilung des Lernens zuhause zu unterstützen, wie auch die Förderung der Motivation der SchülerInnen mithilfe kreativer, interessanter Aufgaben und individueller Rückmeldungen. Ein großes Engagement führt dabei zu einer hohen Arbeitsbelastung der Lehrkräfte.

Lehren auf Distanz: auch für PädagogInnen eine Belastung

Dies drückt sich im Rahmen der Online-LehrerInnenbefragung in einem Anteil von rund 70% der PädagogInnen aus, die von einem höheren Stundenaufwand durch das Distance-Schooling berichten. Dabei zeigen sich auch weitere gravierende Problemlagen, mit denen die LehrerInnen zu kämpfen haben. 43% fühlen sich als EinzelkämpferInnen sowie bei ihrem pädagogisch-didaktischen Handeln eingeschränkt und von äußeren Gegebenheiten abhängig. Dies resultiert auch in einem Anteil von 55% der LehrerInnen, die ein geringeres Wohlbefinden wahrnehmen. Dabei wird die Problemsituation in den AHS-Unterstufen als belastender erlebt als in den Mittelschulen. Insbesondere der Unterschied auf die Frage nach dem „EinzelkämpferInnentum“ ist zwischen den beiden Schulformen eklatant, wie auch in der Grafik deutlich zum Ausdruck kommt.

Kommunikation 2.0

Unterrichten auf Distanz wird oftmals mit e-Learning gleichgesetzt oder zumindest assoziiert. Dass dieser Konnex nicht uneingeschränkte Gültigkeit besitzt, wird anhand der Angaben zu Digitalpräsenzzeiten während der Schulschließungen deutlich. So sind es nur rund 30% der LehrerInnen, die angeben, dass sie mit ihren SchülerInnen regelmäßige Termine für digitalen Live-Unterricht vereinbart haben. Höher sind die Anteile digitaler Präsenzzeiten für die individuelle Betreuung und Beratung im Zusammenhang mit Fragen der SchülerInnen, dies jedoch nur aufgrund eines vergleichsweise hohen Wertes von 41%, den die Mittelschulen hier erreichen, während die Angaben der LehrerInnen in AHS-Unterstufen mehr als 14%-Punkte dahinter bleiben.

Der Kontakt und der Austausch mit den SchülerInnen – sowohl individuell als auch im Klassenverband – gelten als Grundvoraussetzung für erfolgreiches Lernen auf Distanz. Ein wesentlicher Lerneffekt besteht aus der Sicht der Lehrpersonen darin, in der digitalen Interaktion nichts vermeintlich Selbstverständliches vorauszusetzen. Denn im Alltag der SchülerInnengeneration sind ganz andere (digitale) Kompetenzen und Fähigkeiten relevant als in jenem der Lehrpersonen. So gibt es etwa SchülerInnen, die täglich über das Smartphone chatten und den Umgang mit audiovisuellen Medien problemlos meistern, jedoch an der schriftlichen Kommunikation per E-Mail oder an der Übermittlung einer Aufgabe als Scan scheitern.

Sozial ungleich verteilt: Was Benachteiligten (besonders) schwerfällt und wie Lehrkräfte damit umgehen

Eine sehr deutlich ausgeprägte soziale Ungleichheit zeigt sich der Online-Befragung zufolge darin, wie SchülerInnen mit der Situation und der Praxis im Distance-Schooling zurechtkommen. Egal, ob man die LehrerInnen danach fragt, wie gut es den SchülerInnen gelingt ihren Tag zu planen, Arbeitsaufträge vollständig, selbständig und fristgerecht zu erledigen oder sich entsprechende Unterstützung zu holen, wenn Fragen offen bleiben, immer ist es zumindest ein Faktor drei mit dem benachteiligte SchülerInnen in Relation zum Durchschnitt aller SchülerInnen schlechter abschneiden. So stimmen – wie man in der Grafik erkennt – beispielsweise der Frage nach der selbständigen Erledigung von Arbeitsaufträgen bezogen auf die Gesamtheit der SchülerInnen 84% der LehrerInnen zu, während die Zustimmung bezogen auf die benachteiligten SchülerInnen auf nur rund 20% abfällt.[1]

Die (sozial ungleich verteilten) Schwierigkeiten während der Schulschließungen bleiben dabei nicht ohne tiefergreifende Auswirkungen auf die SchülerInnen. So ist rund ein Drittel der LehrerInnen der Ansicht, dass die SchülerInnen überfordert sind, bezogen auf benachteiligte SchülerInnen steigt dieser Anteil auf knapp 80%. Dies resultiert in der Sorge, dass sich das Kompetenzniveau der SchülerInnen durch den Distanz-Unterricht verschlechtern wird und die SchülerInnen den Jahresstoff nicht schaffen werden. Die Zustimmung auf diese Fragen liegt bei rund einem Drittel bzw. einem Viertel, wobei die entsprechenden Anteile für die benachteiligten SchülerInnen wiederum das doppelte bis dreifache betragen. So fürchten explizit 76% der LehrerInnen bei benachteiligten SchülerInnen eine Verschlechterung des Kompetenzniveaus, in Wien sind es sogar 81%.

Diese Werte bilden die Grundlage zwei Hypothesen abzuleiten. Erstens, dass durch das Lehren und Lernen auf Distanz das Kompetenzniveau allgemein negativ beeinflusst wird. Zweitens, dass die Bildungsungleichheit noch weiter steigt. Analysen von ersten Kompetenzmessungen vor und nach dem Lockdown im Rahmen internationaler Studien unterstreichen diese beiden Hypothesen eindrucksvoll (Engzell et al. 2020).[2]

Die sozial ungleiche Verteilung der Problemlagen wirft die Frage auf, wie SchülerInnen mit nachteiligen Voraussetzungen für das Lernen zuhause gezielt unterstützt und Kompetenzverluste vermieden werden können. Die von den Lehrkräften berichteten Strategien können zwei unterschiedlichen Ansätzen zugeordnet werden:

  • Niederschwellige Gestaltung des Unterrichts für alle: Einerseits werden Methoden, Aufgaben, Inhalte und digitale Kommunikationswege derart angepasst, dass SchülerInnen das Lernen zuhause mit minimalen technischen Voraussetzungen, (digitalen) Kompetenzen und elterlicher Unterstützung bewerkstelligen können. Dafür wird beispielsweise auf niederschwellig zugängliche Lernplattformen, bekannte Übungsformate und die einfache Formulierung von Aufgabenstellungen gesetzt und der Wiederholung und Vertiefung von Lerninhalten eine größere Bedeutung beigemessen als der Vermittlung neuer Stoffkapitel.
  • Individuelle Förderung von Benachteiligten: Andererseits wird versucht, schwer erreichbare, leistungsschwächere und/oder weniger lernmotivierte SchülerInnen individuell anzusprechen. Kennzeichnend für diesen Ansatz ist der intensive persönliche Kontakt der Lehrpersonen zu ihren benachteiligten SchülerInnen und deren Eltern, um diese an Aufgaben zu erinnern, sich nach dem Wohlbefinden zu erkundigen und Unterstützung zu leisten.

Fazit

Abschließend bleibt festzuhalten, dass die Bildungsungleichheit und damit die soziale Selektivität des Bildungssystems steigen werden, je stärker der Lernerfolg von privater Unterstützung abhängig ist. Dieser Befund ist nicht neu, tritt aber während der Schulschließungen umso deutlicher hervor, als die Voraussetzungen für erfolgreiches Lernen in einem besonderen Ausmaß an solche Unterstützung gekoppelt war. Werden pädagogisch-didaktische Überlegungen zum Lernen zuhause von den Anliegen einer niederschwelligen Gestaltung des Unterrichts geleitet, der wenig an technischer Ausstattung und elterlicher Unterstützung voraussetzt und im Rahmen dessen SchülerInnen gezielt motiviert und beim selbstorganisierten Arbeiten unterstützt werden (Ansatz A), dann profitieren davon auch und insbesondere die Benachteiligten. Sind die Anforderungen für ein erfolgreiches Lernen auf Distanz höher und die Erwartungen an die unterstützende Rolle der Eltern größer, dann drohen Benachteiligte, (noch) weiter zurückzufallen. In diesen Fällen erscheint es umso wichtiger, Benachteiligte individuell zu fördern und zu motivieren (Ansatz B).

Ein Vergleich nach Schulformen zeigt, dass es vor allem MS-Lehrpersonen sind, die gezielt versuchen, die Bedürfnisse benachteiligter SchülerInnen schon im Stadium der Unterrichtskonzeption zu berücksichtigen. Dies kann damit begründet werden, dass individuelle und strukturelle Benachteiligungen in den MS tendenziell stärker wahrgenommen werden. Die Lehrkräfte dieser Schulen rechnen damit, dass ihre SchülerInnen zuhause mehrheitlich schlechte Voraussetzungen für das Lernen vorfinden und passen ihre Erwartungen an diesen Umstand an. In den AHS herrscht hingegen der Eindruck vor, dass es sich bei den Benachteiligten um eine kleine Gruppe innerhalb der Klassen handelt, für die es noch schwieriger ist, im Fernunterricht dabei zu bleiben, wenn individuelle Unterstützung durch engagierte Lehrkräfte fehlt.

Anmerkungen/Literatur

[1] Dargestellt werden Anteile von LehrerInnen, die den einzelnen Aussagen hinsichtlich der jeweiligen SchülerInnengruppe sehr oder eher zustimmen. Benachteiligung basiert auf einer Einschätzung der LehrerInnen, was die Unterstützung/Förderung durch die Eltern, die materiellen Verhältnisse, die technische Ausstattung zu Hause sowie die privaten Wohnverhältnisse ihrer SchülerInnen betrifft.

[2] Engzell, Per/ Frey, Arun / Verhagen, Mark (October2020): Learning loss due to school closures during the COVID-19 pandemic. Studie des Leverhulme Centre for Demographic Science an der Universität Oxford. [URL: https://osf.io/preprints/socarxiv/ve4z7/]